Ausstellungstext «Give me an A!», Schwarzwaldallee Basel
Mathis Vass (*1971 in Zürich, lebt und arbeitet in Basel und Hégenheim) ist der Malerei mit grosser Konsequenz verbunden, er schafft jedoch immer wieder skulpturale Arbeiten, Filme, Fotografien, oder auch Interventionen im öffentlichen Raum, wie kürzlich den «shortcut», die diagonale Traverse über das Areal der ehemaligen Strafanstalt Schällemätteli.
Die für sein künstlerisches Werk zentrale Werkserie der «blow up»-Bilder erinnert an einen experimentellen Film von Charles und Ray Eames: «Powers of Ten», von 1977. Es ist die Reise durch die Dimensionen, angefangen beim menschlichen Massstab, extrapoliert in 10-er-Schritten bis zu den in Lichtjahren gemessenen Krümmungen des Weltalls, wo unsere Vorstellung von Zeit und Raum ineinanderfliesst, und zurück im selben Rhythmus bis zu den kleinsten Einheiten, den Quarks.
Auch die «blow up»-Serie handelt von einer Reise zwischen Makro- und Mikrokosmos: Sie thematisiert Vergrösserung, Rasterung, den Blick auf das kleine Detail und dessen Aufgehen in einem neuen Zusammenhang. Es geht um ein Austarieren von Vordergrund und Hintergrund, Zeichnung und Malerei, Fläche und Tiefe, konzeptueller Strenge und malerischer Üppigkeit.
Seine zuerst unabhängig, mit beiden Händen entstehenden Kritzelzeichnungen, die später im Vordergrund seiner Gemälde agieren, entspringen einer Form von «écriture automatique». Sie oszillieren zwischen Abbildhaftem, Erzählung und zufälliger Spur. Um den Faktor zehn vergrössert, sind sie akribisch genau in Ölfarbe übertragen und geben ein transponiertes Abbild des Kontaktes zwischen Graphitstift und Papieroberfläche auf der Leinwand wider, womit eine eigentliche Fragmentierung einer ursprünglich kontinuierlichen Geste geschieht. Die übertragene, gemalte Zeichnung führt zwar ein Eigenleben im Bild, sie kann räumlich vor der Fläche der Malerei wahrgenommen werden, sie ist aber ebenso auf den Hintergrund bezogen, der mehr ist als dies: es ist die Zone der Entfaltung der Malerei in all ihren Facetten, sei es mit Hilfe einer konzeptuellen «Handlungsanleitung», welche die Entwicklung eines modulierenden, orthogonalen Farbrasters prägt, oder als Prozess eines malerischen Denkens, der über eine längere Entstehungszeit verschiedene Zustände und Konstellationen organoider Formen beinhalten kann.
Eine Auswahl neuster Arbeiten dieser «blow up»-Serie zeigt Mathis Vass in der Schwarzwaldallee. Das Prinzip der im Massstab 10:1 übertragenenen Zeichnungen ist auch in diesen beibehalten, ihr Hintergrund ist jedoch reduzierter, in den Proportionen direkter auf das Format des Bildträgers und auf dessen materielle Eigenschaften bezogen. Dazu kommt eine neue Lust am Experiment, mit dem performativen und auch persönlichen Element des Körperabdruckes, oder der Offenlegung des Malprozesses, wie in «blow up» Nr. 100, wo alle Arbeitsschritte gleichwertig und als Ergebnis zu sehen sind: geleimte, grundierte, gemalte und gespachtelte Leinwand, ein diagonal angelegtes Raster und eine Zeichnung, die Kontrastverhältnisse von Figur und Grund untersucht. Schliesslich «blow up» Nr. 106, das reduzierteste der ganzen Serie, eine Reflektion über die Grundlagen malerischer und zeichnerischer Mittel, elementar wie der A-Ton der Stimmgabel, auf der ein ganzes Tonsystem aufgebaut ist.
Roland Wetzel, September 2013
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Das richtige Maß
Einige Betrachtungen zu den „Blow-Up“ Bildern von Mathis Vass
Was Mathis Vass tut und wie er es tut braucht Zeit, viel Zeit. Seine Malerei basiert auf komplexen Findungs- und Entscheidungsprozessen, über die das Bild als Resultat nur bedingt Aufschluss gibt. Wir können zwar beschreiben, was wir sehen, aber je präziser wir das Dargestellte zu erfassen suchen, desto deutlicher wird eine Diskrepanz, die unsere Wahrnehmung herausfordert und unsere Neugier weckt. Gewohnt Bilder als visuelle Einheiten zu betrachten, versuchen wir eine räumliche, inhaltliche oder strukturelle Verbindung zwischen der geometrischen Strenge der Hintergründe und den darüber gelegten freien Zeichnungen herzustellen. Aber so sehr wir uns auch bemühen, eine Disziplinierung des Gestischen durch das Systematische oder umgekehrt eine anarchische Infragestellung der Ordnung in die Bilder „hineinzulesen“, so spüren wir intuitiv, dass die Kompositionen sich einer Interpretation auf der Basis tradierter Konnotationen und damit unseren Wahrnehmungsgewohnheiten verweigern. Schlagen wir dagegen den umgekehrten Weg ein und stellen uns die beiden Bildebenen getrennt vor, so führt das zumindest zu zwei Erkenntnissen: Zum einen wird deutlich, dass für beide Ebenen die Zweidimensionalität, also ein Begreifen von Malerei als konkrete Fläche entscheidend ist. Zum anderen veranschaulicht eine Trennung, dass die beiden Ebenen keineswegs so unabhängig voneinander sind, wie wir zunächst dachten, sondern offensichtlich in einer Relation zueinander stehen, die rein optisch nicht dechiffrierbar ist.
Ausgangspunkt, Thema und Zielsetzung der Malerei von Mathis Vass ist die Selbstreflexion des Mediums. Knüpft er damit an eine künstlerische Fragestellung an, die in den 1970er und 1980er Jahren die konzeptionelle Malereidiskussion beherrschte, so geht er zugleich einen Schritt weiter. Seine Werke sind nicht „Malerei über Malerei“, sondern verhandeln die Schnittstelle zwischen Malerei und Zeichnung im gemalten Bild, wobei die unterschiedlichen Eigenschaften beider Medien genutzt und zugleich transformiert werden. Aus diesem Grund haben die meisten seiner Bilder keine lineare Entstehungsgeschichte, sondern resultieren aus unterschiedlichen Prozessen, die im finalen Werk zusammengeführt werden.
Beginnen wir mit dem Zeichner Mathis Vass. Den Bleistift in der Hand – und manchmal sogar mit zwei Bleistiften „zweihändig – setzt er bewegte Linien, gestische Kürzel und Kringel, manchmal fast comicartige Figurenkonstellationen aufs Papier. Blatt um Blatt – die größten gerade einmal DinA4 – wird so gefüllt. Ohne Absicht und ohne Ziel. Es ist eine Art „écriture automatique“, aber ohne dass psychologische Implikationen im Vordergrund stünden, insofern weisen seine, wie er sagt, „Kritzeleien“ auch eher eine Verwandtschaft mit „Telefonzeichnungen“ auf, jenen unbewussten Gespinsten, die scheinbar von selbst entstehen während die Aufmerksamkeit auf etwas Anderes gerichtet ist. Häufig in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen ausgeführt, entstehen diese Zeichnungen nicht im Hinblick auf eine „Weiterverwertung“, sondern werden zunächst einmal weggelegt, gesammelt.
Diesem seit Mitte der 1990er-Jahre gewachsenen Repertoire an Zeichnungen, die keine „Vor“-Zeichnungen sind, steht ein Fundus von Möglichkeiten gegenüber, durch den sich die Gliederung und Farbigkeit der Hintergründe der Gemälde bestimmt. Während bei den rechtwinkligen oder verschobenen Rasterstrukturen die Bevorzugung konkreter Systeme – nur in einzelnen Werken kommen organische Formen vor – offensichtlich ist, vermutet man zunächst, dass es sich bei den Farbanordnungen um zufällige oder spontan entschiedene Setzungen handelt. Das stimmt und stimmt aber auch nicht. Mathis Vass wählt zwar aus, aber nicht einzelne Farben, sondern jeweils Farbsysteme. So basieren die unterschiedlichen Farben in einem Bild ebenso wie ihre Zuordnung zueinander beispielsweise auf dem Farbausdruck eines digitalisierten Bildes, das so vergrößert wurde, dass jeder Pixel ein Maß von 1 x 1 cm hat und aus dem wiederum ein Ausschnitt gewählt wurde. Aber es gibt auch eigene Systeme, wie die Zuordnung von Farben zu Zahlen, die dann Feld für Feld „ausgewürfelt“ werden oder Farbkombinationen, die sich an Buchstaben orientieren, die einen, wie der Künstler sagt „zensierten Zufallstext“ nachvollziehen. Gemeinsam ist diesen Methoden, dass in ihnen Logik und Aleatorik untrennbar miteinander verbunden sind.
Die „Arbeit am Bild“, beginnt erst wenn alle drei Komponenten festgelegt sind, also die Gliederung und Farbigkeit des Hintergrunds ebenso wie die Zeichnung, die den Vordergrund bestimmen wird. Das ist der Moment des „Blow-Up“, dem die Serie ihren Titel verdankt. Vergrößerung bedeutet bei Mathis Vass nicht einfach willkürliches „Aufblasen“ der kleinen Vorlage: Der Maßstab entspricht immer der zehnfachen Vergrößerung der Zeichnung, wodurch auch das zu verwendende Raster festgelegt ist, das zum einen die Gliederung des Bildhintergrunds bestimmt und zum anderen als Koordinatensystem dient, um die Zeichnung maßstabsgerecht vergrößert auf die Leinwand zu übertragen, deren Größe ebenfalls durch den angewandten Multiplikationsfaktor bestimmt ist. Wenn aber alle Bildkomponenten – außer der Farbe – der gleichen Maßstäblichkeit folgen, bedeutet das auch, dass genau in dieser Gleichbehandlung des Diskrepanten das verbindende Element, die Relation liegt, der die Werke von Mathis Vass ihren inneren Zusammenhalt und ihre Spannung verdanken.
Die Übertragung des „Konzepts“ auf die Leinwand ist eine „Übung in Entschleunigung“. Als erstes wird der geometrische Hintergrund angelegt und dann Feld für Feld mit Pinsel oder Spachtel die dafür vorgesehene Farbe aufgebracht. Könnte man hier die äußerste Präzision, mit der Mathis Vass Malerei betreibt, noch durchaus in der Tradition der konkreten Kunst sehen, so fehlt einem jeder Vergleich, wenn man beobachtet, wie er die Bleistiftzeichnung – nie einen Ausschnitt, sondern stets das ganze Blatt – mit der gleichen Akribie auf die Leinwand überträgt. Die Entscheidung für das traditionelle Verfahren der Vergrößerung mit Hilfe eines Rasters ist notwendiger Bestandteil seines Konzepts, da eine Projektion genau die Details der gestischen Spur, denen sein Interesse gilt, eher nivellieren würde. „Vorbild“ muss deshalb die Originalzeichnung sein, über die er eine transparente Folie mit dem Aufriss des Rasters – die Überlagerungen mit der Bleistiftlinie aussparend – legt. Gibt die Einbindung in das Koordinatensystem die Größe und den Ort der Zeichnung auf der Leinwand vor, so bedarf es zur nun anstehenden Übertragung einer Lupe, da nur so jedes Detail erkennbar ist. Durch das Vergrößerungsglas betrachtet, erweist sich ein scheinbar flüssig aufs Papier gesetzter Schnörkel als Konglomerat aus einer Vielzahl von Einzelsegmenten, deren Erscheinungsbild durch die körnige Textur des Graphits und den variierenden Druck, mit dem der Stift geführt wurde, ebenso bestimmt wird, wie durch Unebenheiten im Papier. Was Mathis Vass mit einem feinen Pinsel in Malerei übersetzt ist nicht die Zeichnung, sondern die Folge von abstrakten Zeichen, aus denen sie sich zusammensetzt.
Nur über die Kenntnis des Verfahrens lässt sich das spezifische Erscheinungsbild der Malerei und zugleich das ihr zugrunde liegende Konzept entschlüsseln. Mathis Vass arbeitet mit einer stetigen Verengung des Entscheidungsspielraums, sind die Parameter einmal festgelegt, ergeben sich die folgenden Schritte mit logischer Konsequenz. Scheint es deshalb zunächst als versuche der Künstler jede spontane Setzung, jede subjektive Geste aus der Malerei zu verbannen, so belehren uns die Bilder eines Besseren. Jeder, der einmal die Möglichkeit hat, eines der „Blow-Up“ Bilder im Original zu sehen, kann die Erfahrung machen. Das Auge nah der Leinwand verlieren wir nicht nur das Dargestellte aus den Augen, sondern tauchen „ins Innere“ der Malerei, einen fast mikroskopischen Zeichenkosmos ein. Je weiter wir uns dagegen von der Leinwand entfernen, desto mehr wird aus den Zeichen wieder die Zeichnung, eine subjektive Setzung, scheinbar spontan der Malerei eingeschrieben, also all das, was es nicht ist. Es ist dieses Nebeneinander des Unvereinbaren, von Desillusionierung und Illusionismus, das die „Blow-Up“ Bilder von Mathis Vass auszeichnet – sie verführen uns, Malerei sehen zu lernen.
Margrit Brehm
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Kurztext
Seit Mitte der 1990er-Jahre arbeitet Mathis Vass, geboren 1971 in Zürich, an „Blow-Up“ Bildern, in denen er die Grenzen und Möglichkeiten, einer durch strenge Regeln geprägten Malerei immer wieder neu auslotet. Ist die Grundkonzeption dabei auch immer die gleiche, so variiert das Erscheinungsbild. Die Weiterentwicklung des Systems, ab 2000/2001 durch die Einbringung von inselhaften Volumenformen und transparenten Farbschleiern, welche die Grenzen zwischen Vorder- und Hintergrund verunklären, ebenso wie die 2007 gefällte Entscheidung, die Zeichnung nicht nur in Schwarz, sondern in einer oder mehreren Farben auszuführen, haben sein Möglichkeitsfeld zusätzlich bereichert. Die Werke von Mathis Vass sind nicht „Malerei über Malerei“, sondern verhandeln die Schnittstelle zwischen Malerei und Zeichnung im gemalten Bild, wobei die unterschiedlichen Eigenschaften beider Medien genutzt und zugleich transformiert werden. Das Resultat sind Bilder, die unsere Wahrnehmung herausfordern und unsere Neugier wecken.
Margrit Brehm
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